Ausgewählte Werke zum Anhören
mit Erläuterungen von Dr. Gabriele E. Meyer
Drittes Streichquartett
Das den beiden Streichquartetten von 1935 bzw. 1949 folgende dritte Werk der Gattung komponierte Günter Bialas im Jahre 1968. Anders als das zweite Streichquartett, in dem Bialas sich auf seine sehr eigene Weise mit der Zwölftontechnik auseinandersetzt, besteht das dritte Beispiel aus zwei Teilen, die sich in Ausdruck und Spielweise deutlich unterscheiden. „Die Tonfolge g-b-a-as (Günter Bialas) steht zu Beginn des Stücks und vermittelt einen Klang, der im weiteren Verlauf verschiedene Gestalten annimmt, erkennbar immer wieder auftaucht und so zum Ausgangspunkt aller übrigen Entwicklungen in dem Stück wird. An einigen Stellen können die Interpreten selbst die endgültige Gestalt des Stücks bestimmen, wobei ihnen allerdings Tonhöhen, Klangfarben und Spielweisen zugewiesen werden. Das Stück kehrt gegen Ende immer deutlicher zu der dominierenden Tonfolge vom Anfang zurück. Die Entscheidung für diese Tonauswahl bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger als früher die Wahl einer Tonart“ (Günter Bialas, 1980).
Die Uraufführung fand am 19. März 1968 in München statt. Andere Quellen verweisen auf den Oktober 1969, wobei als Uraufführungsorte sowohl Wien als auch München genannt werden.
Auryn Quartett
Auf YouTube ansehen
Marsch-Fantasie
für großes Orchester
Mitte der dreißiger Jahre schrieb Bialas für eine damals geplante aber nicht erschienene Klavierschule eine Reihe von Stücken, die das Zusammenspiel von Lehrer und Schüler und auch unter Schülern anregen sollte. Über ein halbes Jahrhundert später sichtete der Komponist die alten Sätze, ergänzte sie durch neue und gab sie als „Klavierbuch für drei bis sechs Hände“ heraus. Manche der Titel wie Ländler, Walzer, Marsch und Galopp stehen auch über einigen in den achtziger Jahren komponierten Sätzen für großes Orchester. So enthält ein als Fantasie-Triptychon konzipierter Zyklus neben einer „Ländler-Fantasie“ auch eine „Marsch-Fantasie“. Hingegen blieb die Nummer Drei mit dem Titel „Lied-Fantasie“ unausgeführt. Die etwa zwölfminütige „Marsch-Fantasie“ entstand als Kompositionsauftrag des Schleswig-Holstein Musik Festivals im Jahr 1987. In ihr suchte Bialas verschiedenartige Märsche assoziativ zusammenzufassen, manchmal als wörtliches Zitat, manchmal variiert, verzerrt oder übersteigert im Nebeneinander oder Übereinander der Melodien.
Die „Marsch-Fantasie wurde am 29. August 1988 unter Leitung von Sergiu Celibidache, Bialas’ Freund seit seinen Berliner Studienzeiten, in Hamburg uraufgeführt.
Orchesterakademie des Schleswig-Holstein Musik Festivals
Sergiu Celibidache, Dirigent
Auf YouTube ansehen
Sinfonia piccola
Die viersätzige „Sinfonia piccola“ für drei Bläser und Streichorchester entstand 1960 als Auftragswerk des Folkwang-Kammerorchesters. Da es sich bei dem Auftraggeber um ein Studentenorchester handelte, kannte Bialas aufgrund seiner Erfahrungen aus dem Schulmusikstudium, der Referendarzeit in Berlin und der anschließenden Lehrtätigkeit in Breslau den technisch begrenzten Rahmen derartiger Ensembles sehr genau, wußte also, was zumutbar war. „Ich dachte an den Schwierigkeitsgrad etwa einer Haydn-Sinfonie, damit aber auch gleichzeitig an den Charakter der frühklassischen Sinfonie, an ein Stück konzertanter Art, ohne die starke Ausdrucksbelastung der romantischen Symphonik“ (Günter Bialas, 1962). Die Besetzung mit Flöte, Oboe, Klarinette und Streichorchester ergab sich aus den Möglichkeiten des Orchesters und Bialas’ explizitem Wunsch, konzertierende Bläser einzusetzen. So entstand eine höchst ausgewogene Komposition. Das Beiwort „piccola“ bezieht sich hier nicht nur auf die geringe Ausdehnung des Stückes (Dauer etwa 15 Minuten), sondern auch auf den spielerischen Gehalt. Die Satzfolge erinnert an das klassische Vorbild: Allegro – Romanze. Andantino – Menuett. Gemählich – Rondino. Allegro giocoso.
Ihre Uraufführung erlebte die „Sinfonia piccola“ am 28. Mai 1960 in Essen anläßlich der Eröffnung des Folkwang-Museums.
Folkwang Kammerorchester Essen
Heinz Dressel, Dirigent
Auf YouTube ansehen
Introitus – Exodus
„Introitus – Exodus“ für Orgel und Orchester entstand 1976 als Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks. Gewidmet hat Bialas das Werk seinem langjährigen Freund und Verleger Karl Vötterle, wobei die Nachricht von dessen Tod Bialas erst während der kompositorischen Arbeit erreichte. Zwar erinnert das Werk allenfalls mittelbar an den Freund, doch ist die Widmung keinesfalls als bloße Geste zu verstehen. Sie ist durchaus Ausdruck von Wertschätzung und Dankbarkeit. Die drei Teile sind mit „Introitus“, „Interludium“ (für Orgel solo) und „Exodus“ überschrieben. „Introitus – Exodus“ war für den Komponisten „eine verallgemeinerte Wegbeschreibung des Lebens, keine Ich-Musik wie Richard Strauss’ Tod und Verklärung, zielt also nicht auf eine Person, sondern auf ,das Leben‘ als ein Wegbeschreiten in gleiche Richtung, ist keine Darstellung des Lebens, nur eine Entsprechung, eine Art Ritual“ (Günter Bialas, 1984). Ein- und Auszug sind Bewegungen in die gleiche Richtung. Das eingeschobene Orgel-Interludium verwendet vorausgegangenes Material und bereitet neues vor. In diesem Werk hat Günter Bialas in großer Meisterschaft das Orchester mit redegewaltiger Intensität zum Sprechen gebracht.
Die Uraufführung „In memoriam Karl Vötterle“ fand anläßlich der 25. Internationalen Orgelwoche Nürnberg am 13. Juni 1976 mit Edgar Krapp an der Orgel und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Rafael Kubelik statt. Die Spieldauer beträgt insgesamt etwa 26 Minuten; Spieldauer ohne das Interludium (falls keine geeignete Orgel vorhanden) etwa 17 Minuten.
Anhören
Edgar Krapp, Orgel
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Rafael Kubelik, Dirigent
Auf YouTube ansehen
Viertes Streichquartett „Assonanzen“
in sieben Abschnitten
Ein Wesensmerkmal des Bialasschen Komponierens liegt in dem über viele Jahre entwickelten und intendierten ganzheitlichen Klangsatz. Davon spricht auch das vierte Streichquartett. Der beigefügte Titel „Assonanzen“ bezieht sich auf ein Gedicht von Eichendorff, bei dem, nach Bialas, jedoch nicht der Inhalt eine Rolle spielt, sondern die Machart des Gedichts. Im musikalischen Bereich heißt das: Annäherung von Klängen aneinander. Ein Siebentonklang bildet den Ausgangsakkord, der sich allmählich verändert und zwar durch Zerlegen, Hinzunehmen, Wegnehmen und den Austausch von Tönen. Dieser Vorgang bezieht sich sowohl auf den horizontalen als auch den vertikalen Ablauf, wirkt sich also melodisch und harmonisch aus. „Die Entwicklung des im Grunde einsätzigen Stückes vollzieht sich in sieben Abteilungen; sie mündet hinein in einen einfachen, auch vom Hörer nachvollziehbaren Vorgang: aus dem Akkord entsteht allmählich ein ,Geläut‘, bei dem jeder der vier Spieler zwei oder drei Töne pendeln läßt; ein kompositorisches Verfahren, das auch die sogenannte minimal music kennt und das hier zu einem ,großen Geläut‘ führen soll, welches schließlich abklingt und in den Ausgangsakkord zurückführt“ (Günter Bialas, 1986).
Uraufgeführt wurde „Assonanzen“ am 21. November 1986 in Hamburg (Reihe „8½“ der Opera stabile). Es spielte das Antonio-Quartett.
Verfügbare CD
Auryn Quartett
TACET 121
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks Köln in Koproduktion mit dem Bayerischen Rundfunk
Koproduktion WERGO / Bayerischer Rundfunk
Jazz-Promenade
für Klavier und Orchester
Die „Jazz-Promenade“, entstanden Anfang der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, war ursprünglich Teil eines von dem Choreographen Bodo Lehmann angeregten, aber nicht vollendeten Balletts mit dem Titel „Seelen-Promenade“. Das Konzept basierte, nach Bialas, auf der Idee, Promenaden verschiedener Art auf Laufstegen zu zeigen, die bestimmte Gemütszustände ausdrücken sollten. Die „Jazz-Promenade“ war zunächst für zwei Klaviere geschrieben worden. Einige Jahre später erfolgte die Umarbeitung für Klavier und Orchester, wobei der Klavierpart von einigen leichten Veränderungen mit dem ersten Klavier der Klavierfassung identisch ist.
Das dreiteilige Stück verarbeitet sowohl südamerikanische Tanzrhythmen wie auch Jazzelemente. „Der erste Abschnitt entwickelt sich über einem Boogie-Baß. Der Mittelteil bezieht sich auf typische Ausdruckselemente des argentinischen Tangos. Das Stück kehrt wieder zu seinem Ausgangsmaterial zurück, also zum Boogie-Baß und der dazugehörigen Thematik. Nun wird das Tempo bis zu einem ,Presto‘ beschleunigt, und neu hinzukommende Jazzrhythmen verleihen der Coda einen Charakter, der auch den Titel ,Jazz-Promenade‘ rechtfertigt“ (Günter Bialas, 1981).
Die Uraufführung der Zweitfassung fand am 25. Oktober 1956 mit Oscar Koebel und dem Großen Sinfonieorchester unter der Leitung von Dean Dixon in Stuttgart statt (Woche der leichten Musik).
Anhören
Christoph Eschenbach, Klavier
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Rafael Kubelik, Dirigent
Auf YouTube ansehen
Lamento, vier Intermezzi und Marsch
für Klavier
Zwei gewichtige, in ihrem Charakter sehr gegensätzliche Stücke rahmen die vier kleineren, meist lyrischen Intermezzi ein. Bis auf den Marsch entstanden alle Stücke im Zusammenhang mit dem Klavierpart von Liederzyklen. Das „Lamento“ entnahm Bialas dem 1983 komponierten Heine-Liederzyklus „O Miserere“ für Bariton und Klavier, in welchem es die Funktion als instrumentales Bindeglied zwischen dem 3. und 4. Gesang einnimmt. Hier wie dort suggeriert der Beginn des „Lamento“ einen exaltierten Klagegesang mit grellen Schreien, Melismen und drohend hämmernden Basstönen, „die ,wie ein Kondukt‘ das Todessymbol der Pauke assoziieren“ (Siegfried Mauser, 1988). Ausgangsbasis für die folgenden vier Intermezzi (komponiert 1986) waren Begleitformeln sowie Vor-, Zwischen- und Nachspiele zu den Liedern aus dem Zyklus „Mythos Zeit“ (entstanden 1983 oder 1984) nach Gedichten von Horst Bienek und einem Epilog nach Johann Christian Günther für Bariton und Klavier.
Bialas möchte diese Intermezzi als selbständige Einheiten verstanden wissen, wobei er bei der Gestaltung, nach seiner eigenen Aussage, die späten Intermezzi von Johannes Brahms im Ohr hatte. Den Beschluß des Werks bildet ein Marsch. Dabei greift Bialas auf eine Form zurück, die ihn durch ihre zahlreichen Ausdrucksvarianten immer fasziniert hat. So gestand er einmal, daß er Märsche seit seiner Kindheit liebe, so z. B. Schuberts vierhändige Klaviermärsche, preußische und österreichische Militärmärsche, die Opernaufmärsche von Verdi, Wagner und Meyerbeer und auch den Trauermarsch aus Chopins b-moll-Sonate, „selbst wenn er als Blasmusik erklingt“. – Das hier komponierte Marsch-Finale mit seinem eintönigen, gehetzten und hetzenden Rhythmus sollte wenig später auch im Zentrum der „Marsch-Fantasie“ für großes Orchester stehen.
Die Uraufführung des Gesamtzyklus’ mit Siegfried Mauser am Klavier fand am 17. Juli 1988 in München statt.
Verfügbare CD
Siegfried Mauser, Klavier
WER 6162-2
Koproduktion WERGO / Bayerischer Rundfunk
Quintett für Harfe, zwei Violinen, Viola und Violoncello
Der Wunsch, seiner 1966 komponierten „Musik in zwei Sätzen“ für Harfe und Streichorchester eine kammermusikalische Fassung zu geben, führte Bialas 1984 zu dem Quintett für Harfe, zwei Violinen, Viola und Violoncello. Möglicherweise geht die Anregung zu der Umarbeitung aber auch auf die mit dem Komponisten eng befreundete Harfenistin Helga Storck zurück, Widmungsträgerin fast aller Stücke mit diesem Instrument. Das Quintett knüpft hörbar an das Werk von 1966 an. Geblieben ist vor allem der Harfenpart, weil für Bialas schon damals die Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten weg vom impressionistischen Wohlklang wichtig war. „Die Beschränkung der Harfe auf ihre sieben Töne brachte mich auf die Bindung des Materials an festgelegte Skalen, die sich auch auf die Gesamtstruktur des Stückes auswirkt“ (Günter Bialas, 1985).
Doch eine entscheidende Veränderung zu dem alten Konzept gibt es: „Die 1966 von mir bevorzugte Häufung und Vielfalt der Mittel wird durch einen sehr einfachen Vorgang unterbrochen: alle Stimmen finden sich zu einer Melodie zusammen, die trotz gehaltener Töne einstimmig bleibt und nur bei ihrer letzten Wiederholung mit einer schlichten Harfenbegleitung versehen wird“ (Günter Bialas, 1985).
Die Uraufführung mit Helga Storck (Harfe) und dem Auryn-Quartett fand am 28. April 1985 in Witten (Wittener Tage für neue Kammermusik) statt.
Anhören
Marianna Schmidt, Harfe | Wolfgang Fechner, Violine 1 | Jürgen Paarmann, Violine 2 | Thomas C. Turner, Viola | Mathias Donderer, Violoncello